Das Kriegsende 1945 in Leidersbach
(Niedergeschrieben von Pfr. Josef Fäth)
Palmsonntag, 25.März 1945:
In den letzten Tagen ist die Tätigkeit der feindlichen Tiefflieger immer heftiger geworden. Man hat schon gehört, daß den Amerikanern der Übergang über den Rhein gelungen sei. Noch vermuten wir aber die Front in weiter Ferne.
Allgemein ist man der Ansicht:
„Ehe unsere Heimat direktes Frontgebiet werde, müßten die Spessartberge von deutschen Geschützen besetzt werden, müßten Panzer in unseren Dörfern auffahren, müßte sich deutsche Infanterie an unseren Berghängen einschanzen.“
Das war gottlob nicht der Fall. Lediglich eine Dolmetscherkompanie war in der letzten Woche hier einquartiert.
Da kommt kurz vor der Mittagspause ein Radfahrer aus Ebersbach voller Aufregung zum Pfarrer: „Herr Pfarrer, sie kumme. Bei Niedernberg stehen sie schon, die amerikanischen Panzer“. Noch bleibt alles ruhig. Der Pfarrer geht zur Mittagsandacht, als ob er die aufregende Mitteilung nicht gehört hätte. Erst nach der Andacht wendet er sich an die Kirchenbesucher: „Liebe Leute, soeben ist ein Bote gekommen und meldet, daß amerikanische Panzer bereits bis Niedernberg vorgestoßen sind. (Ein unterdrückter Aufschrei der Kirchenbesucher folgte diesen Worten.) Behaltet vor allem ruhig Blut! Bleibt daheim in Eueren Häusern! Gegen Artilleriebeschuß bieten die Keller im allgemeinen genügend Schutz. Die für heute Abend angesetzte Fastenpredigt fällt aus“.
So schnell sie konnten, eilten jetzt die Leute nach Hause. Das Töchterchen des Gastwirts Fries rennt schnurstracks heim, springt auf einen Tisch der Gaststube und reißt das an der Wand hängende Führerbild herunter. Erstaunt fragende Blicke treffen das Mädchen. „Die Amerikaner kumme!!“
Verschiede Autos kommen die Dorfstraße heraufgefahren. Aus einem von ihnen blitzen die roten Aufschläge einer Generalsuniform. Aufgeregt steht die Bevölkerung in Gruppen an der Straße. OT-Leute und HJ-Formationen hasten in großer Zahl spessarteinwärts. Ab und zu muß alles, – Flüchtige und Schaulustige – vor den Tieffliegern in Deckung gehen.
Die meisten Einwohner haben die Nacht im Keller zugebracht; denn Leidersbach und Ebersbach lagen bereits in Reichweite der feindlichen Geschütze.
Montag, 26. März 1945:
Gottesdienst findet nicht statt. Am Abend wurde in Ebersbach eine stille hl. Messe gehalten. Untertags bietet sich uns im wesentlichen das gleiche Bild wie gestern. Nur, daß viele flüchtige Aschaffenburger und Schweinheimer im „Grund“ ankommen.
Dienstag, 27. März 1945:
Früh um 5 Uhr werden wir jäh aus dem Schlaf aufgeschreckt. Die ersten amerikanischen Granaten schlagen im Waldhang in unmittelbarer Nähe des Pfarrhauses (Dies war damals das Anwesen Hauptstr. 84!) ein. 2 Stunden währte das Feuer, das die Gegend vom „Wasem“ bis „Unter Mühle“ berührte. Die Geschosse, die beim geringsten Anprall explodierten, gingen alle am Waldrand nieder. Sie verursachten keinen Schaden. Gottesdienst kann wieder nicht gehalten werden.
Gegen 8 Uhr bewegte sich ein trauriger Zug deutscher Soldaten durch das Dorf in Richtung Sulzbach. In aller Eile sind diese aus den Würzburger Lazaretten herausgezogen und notdürftig mit Gewehren und Munition versehen worden. Später folgen noch 3 Trupps, blutjunge, vom vielen Marschieren übermüdete Gestalten, offensichtlich ohne jede Kampferfahrung. Jeder Trupp zieht mühsam ein kleines Geschütz hinter sich her. Sie erkundigen sich nach dem „Weg zur Front“. Mitleidige Blicke folgen den Armen, die dem sicheren Tod oder der Gefangennahme entgegengehen. Die Bevölkerung will ihnen Erfrischungen reichen. Sie sind vor Müdigkeit nicht einmal fähig, diese Erfrischungen anzunehmen.
Eine aus Aschaffenburg nach hier verlagerte Kleiderfabrik verkauft bereits massenweise Anzüge an Soldaten und Einheimische.
Gearbeitet wird nichts mehr. In lebhafter Unterhaltung und mit besorgten Mienen stehen die Leute vor ihren Häusern. Vom Maintal her hört man immer lebhafteren Kanonendonner.
Mittwoch, 28. März 1945:
Im Laufe des Tages erobern die Amerikaner Sulzbach. Die deutsche Abwehrstellung wird an die Buchenmühle zurückgenommen. Gegen Abend müssen auch hier die Artilleriestellungen aufgegeben werden. Unbeirrt durch das Jammern der verzweifelten Frauen postieren die angetrunkenen Bedienungsmannschaften ihre Nebelwerfer unmittelbar am Ortseingang von Ebersbach und eröffnen das Feuer gegen Sulzbach. Der feindliche Artillerieflieger kreist langsam über dem Tal, er hat den Stellungswechsel längst bemerkt. Prompt kam dann auch das amerikanische Artilleriefeuer über das Ebersbacher Tal. Mehrere Häuser (bes. das Haus des Eugen Bachmann, Engelbert Weber und Anton Maidhof) wurden schwer beschädigt.
Verwundete kommen aus der Kampflinie zurück. Soweit sie laufen können, erkundigen sie sich nach dem Verbandsplatz Heimbuchenthal.
Gründonnerstag, 29. März 1945:
Tagsüber bleibt es verhältnismäßig ruhig. Gegen Abend liest der Pfarrer in der Kirche Leidersbach eine stille hl. Messe, der allerdings nur zwei oder drei Leute beiwohnen.
Die deutschen Nebelwerfer haben Stellungswechsel nach Leidersbach (Nähe der Kirche) vorgenommen. Schaurig heulen ihre Geschosse durch die Abendstille durch das Tal. Die Antwort der Amerikaner bleibt auch nicht aus. In direktem Beschuß jagen sie ihre Granaten aus Richtung Dornau auf das Leidersbacher Mitteldorf. Friedhof und Kirche werden in Mitleidenschaft gezogen. Mehrere Grabsteine im Friedhof werden zertrümmert. Die Sakristei erhält einen Volltreffer. Das Dach und die Decke der Kirche werden durch viele Granatsplitter stark beschädigt, sämtliche Kirchenfenster zertrümmert. Zwei Leidersbacher Einwohner werden verwundet (Georg Scholl und eine evakuierte Frau aus dem Saargebiet).
Der Beschuß hält die ganze Nacht an.
Karfreitag, 30. März 1945:
Keine Trauerzeremonien!
In den Morgenstunden läßt das feindliche Granatfeuer etwas nach. Der Pfarrer eilt zuerst zur Kirche in Leidersbach und sieht dort „den Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte“. Dann macht er einen Rundgang zu verschiedenen Luftschutzkellern, tröstet und ermuntert die Verzagten. Die Kampflinie schiebt sich bis auf einen Kilometer an Ebersbach heran. Pausenlos tacken dort die Machinengewehre, im Wald recht und links des Tales wird erbittert gekämpft. Am Nachmittag verstärktes Artilleriefeuer auf Ebersbach. Wieder erhalten mehrere Häuser Volltreffer. (Karl Keller und Karl Schüßler erleiden Einbuße an ihrem Viehbestand.)
Im Leidersbacher Oberdorf entwickeln sich bereits Straßenkämpfe. Die Amerikaner sind über Dornau nach Roßbach vorgedrungen und greifen das Leidersbacher Oberdorf an. Verschiedene Häuser werden stark beschädigt. 2 Scheunen (Johann Weis und August Spinnler) brennen völlig ab. Viele Soldaten werden verwundet, desgleichen zwei Leidersbacher (Veronika und Hildegard Schuck, Frau und Tochter des Maurermeisters Karl Schuck). Der Pfarrer spendet mehreren Verwundeten die Sterbesakramente. Im Hause des Altbürgermeisters Weiß liegt ein toter Soldat, ein Berliner. – Langsam ziehen sich die deutschen Soldaten in Richtung Volkersbrunn zurück, da der Panzerbeschuß aus Richtung Roßbach immer stärker wird.
Kurz nach 5 Uhr nachmittags nochmals heftiges Artilleriefeuer auf Ebersbach, das starke Schäden verursacht. Dann verstummt der Geschützlärm.
Gegen ½ 7 Uhr abends erscheinen amerikanische Infanteristen an den ersten Häusern von Ebersbach. Alle Keller werden systematisch nach deutschen Soldaten durchsucht, die Wohnungen nur flüchtig eingesehen. Die Zivilisten bleiben unbehelligt. Am gleichen Abend (etwa gegen 10 Uhr) dringt ein amerikanischer Spähtrupp bis zur Heftersmühle Leidersbach vor. In der Dunkelheit rollen die ersten amerikanischen Panzer in Ebersbach ein. Sie nehmen in den Gehöften des Mitteldorfes Aufstellung.
Karsamstag, 31.März 1945:
Nach einer ruhigen Nacht liegt bereits in den frühen Morgenstunden das Feuer der „Jabos“ wieder auf dem Bergwald, in dem sich noch versprengte deutsche Truppenteile aufhalten.
Der Gottesdienst kann nicht stattfinden. Wie am Vortag macht auch heute früh der Pfarrer eine Rundgang durch das Dorf. Im Mitteldorf sitzen die Leute noch im
Keller. Wie atmen sie erleichtert auf, als er ihnen sagt, daß die Amerikaner in der Nacht schon bei ihm gewesen seien und daß noch am Vormittag der Einzug der Amerikaner erfolge. Im Oberdorf trifft der Pfarrer die Leute schon auf der Straße an. Er schaut sich die Schäden des Vortages an und spricht den Betroffenen Trost zu. Besonders schwer beschädigt ist das Haus von Josef Schmitt in der Sauersecke.
Gegen 10 Uhr von Ebersbach her der Einzug der von Fußtruppen flankierten amerikanischen Panzer in Leidersbach, vorbei an teilweise weiß beflaggten Häusern.
Die amerikanische Kommandantur ist im Hause des August Wegstein in Ebersbach untergebracht. Dort erklärt der 1. Offizier dem vorgeladenen Pfarrer, die Gottesdienste könnten wieder stattfinden, der Krieg sei für uns vorbei.
Gegen Abend heiliges Amt in der Kirche. Erstes Osteralleluja! Nach 6 Uhr abends darf die Bevölkerung nicht mehr auf die Straße.
In der Osternacht eröffnen die amerikanischen Geschütze, die im „Schüttal“ in großer Anzahl aufgestellt sind, ein furchtbares Feuer auf Aschaffenburg.
Ostern,1. April 1945:
Der Krieg ist für unsere Gemeinden Leidersbach und Ebersbach vorbei,
Dankbaren Herzens singen wir im Hochamt unsere Osterlieder. Gottes Hand hat uns in diesen Tagen sichtbar beschützt. In keiner der beiden Gemeinden haben die Kampfhandlungen unter der einheimischen Bevölkerung ein Menschenleben gefordert.
An den Ostertagen nehmen zahlreiche amerikanische Soldaten in würdiger Haltung am Gottesdienst teil. Der Bevölkerung gegenüber verhalten sich die fremden Soldaten im Allgemeinen loyal. Sie verteilen sogar Süßigkeiten unter die Kinder, tauschen Rauchwaren und Konserven hauptsächlich gegen Eier ein. Nur vereinzelt hört man Klagen über mutwillige Übergriffe.
Eine unüberschaubare Menge Panzer, leichte und schwere Geschütze fahren an den Ostertagen durch unsere Gemeinden gegen Osten, da die über Aschaffenburg führende große Heerstraße noch nicht in amerikanischer Hand ist.
Nach dem Fall Aschaffenburgs am 3. April 1945 rücken die Kampftruppen aus unseren Dörfern ab. Es wird nach den Aufregungen der vorausgehenden Tage wieder ruhiger bei uns. Wochenlang sind wir von jeder Verbindung mit der Außenwelt abgeschnitten, ohne Licht, ohne Radio. Wir dürfen uns nur im Umkreis von sechs Kilometer bewegen, dürfen nur in der Zeit von morgens 6 Uhr bis abends 6 Uhr unsere Häuser verlassen. Es entstehen die wildesten Gerüchte: Die Deutschen kämen wieder, die neue Waffe würde endlich eingesetzt usw. ….. Doch diese vom Großteil der Bevölkerung befürchtete Wendung kommt nicht.
Die Bestattung der Gefallenen aus den Kämpfen der Karwoche, auch der deutschen, haben sich die Amerikaner vorbehalten. Die Toten werden gesammelt und auf Lastautos weggebracht. Drei gefallene deutsche Soldaten, die nachträglich noch aufgefunden wurden, erhalten im Leidersbacher Friedhof eine würdige Ruhestätte.